Der Mikro-Klimawandel
Das Weltklima wird angeblich immer wärmer. In der Landschaft vor unserer Haustür geht der Trend in die völlig andere Richtung. Noch nie war es so kalt, so feucht und so dunkel in Wald und Feld.
Zugegeben: Nach einem verregneten Sommer schreibt sich so ein Text etwas leichter. Aber im Ernst: Egal wie das Großklima sich in den vergangenen 50 Jahren entwickelt hat, das KLEINKLIMA ist in den meisten mir bekannten Lebensräumen in Deutschland deutlich ausgelichener und insgesamt KÜHLER geworden, mit fatalen Folgen für die Artenvielfalt.
Zum Start mal ein kleines Gedankenspiel: Betrachtet man so ein schnuckeliges kleines Dörfchen wie zum Beispiel den Haaner Stadtteil Gruiten, besteht überhaupt kein Zweifel daran dass der historische Zustand der Häuser unbedingt erhalten werden muss. Überall Fachwerk, Grüne Fensterläden, Pflastersteine, die Einwohner erzählen gerne Geschichten aus fernen Tagen, Traditionen werden gepflegt, und irgendwie kommt es einem so vor als wäre man im Jahr 1812 und nicht 200 Jahre weiter. Packt aber jemand alte Fotos aus, zum Beispiel aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, reibt sich mancher verwundert die Augen. Die Häuser sind die gleichen, aber die Landschaft drumherum ist nicht wiederzuerkennen: Weit und breit kein dichter Wald, nur hier und da ein Einzelbaum, nackte Steinbrüche, ratzekahl ausgeputzte Bachufer, kahle Feldflur überall. Merkwürdigerweise scheint das ein Zustand zu sein, den niemand wiederhaben will, na ja, bis auf ein paar Spinner, die sich mit Schmetterlingen, Vögeln und anderm Ungeziefer beschäftigen. Denn unbestritten gilt für die Artenvielfalt in der Region: Früher war alles besser, viel besser!!
Ein paar Beispiele aus der Pflanzen- und Tierwelt: Heidelerche, Ziegenmelker, Steinschmätzer, Schafstelze, Wiedehopf, Steinkauz: Die Liste der gefährdeten oder bereits ausgestorbenen Vogelarten in Nordrhein-Westfalen ist voller Hinweise auf die ebenfalls vergangenen Lebensräume. Beweidete, gehölzfreie, dauerhaft kurzrasige Flächen bedeckten früher ausgedehnte Flächen, auch in der Haaner Umgebung. Bestes Beispiel ist die Hildener Heide, die sich heute Hildener Stadtwald nennt. Hier gab es große Bestände von Lungenenzian (ein Beweidungszeiger, die Schafe verschmähen die Bitterstoffe), dazu weitere „Weideunkräuter“ wie Gagelstrauch und Besenginster, dazu lockeren Kiefernwald mit offenen Flugsandstellen: Heute finden sich davon nur noch ein paar kleinflächige Relikte. Magerste, sonnenexponierte, im Frühjahr fast vegetationsfreie Stellen gab es zuhauf, das bot beste Lebensbedingungen für lichtliebende Pflanzen und die daran angepasste wärmeliebende Tierwelt. Heute sucht man offene, rohbodenreiche Standort mit der Lupe, in der Folge ist der Kleintierbestand heute dramatisch viel kleiner als noch vor ein paar Jahrzehnten. Und der letzte Ziegenmelker, eine Vogelart die sich in Heidelandschaften von Fluginsekten ernährt, flog dort vor mindestens fünf Jahrzehnten.
Noch ein paar Beispiele dafür, wie ausgesprochen rustikal früher mit den Biotopen umgegangen wurde: Die Straßengräben wurden von den Gemeinden zu Hütezwecken verpachtet, oder parzellenweise gemäht und als Viehfutter genutzt: Ziegen und Kühe wurden von Kindern und Jugendlichen gehütet, jeder Halm wurde als Futter oder Einstreu weggetragen. Hecken wurden noch Mitte der 60er jahre regelmäßig abgeflämmt. Und die Bahn fackelte in Zeiten der Dampflokomotiven die Bahndämme und bahnnahen Hänge ab, die sich sonst durch den Funkenflug regelmäßig selbst entzündet hätten. Das alles hat der Tierwelt des Offenlandes seinerzeit keineswegs geschadet, sondern im Gegenteil genutzt: Der extreme Zusammenbruch der Populationen vieler Offenland-Arten kam erst mit der Nutzungsaufgabe und dem folgenden Biotopverlust.
Wer daran Zweifel hat, kann sich gerne mal selbst überzeugen: Da wo angeblich am schlimmsten gewütet wurde, sind heute die wertvollsten Lebensräume. In der Haaner Umgebung fällt einem dabei spontan der Pionierwald auf den ehemaligen Rangierbahnhof in Wuppertal-Vohwinkel ein, der von wenigen Jahren von der Deutschen Bahn mit der Planierraupe völlig plattgemacht wurde. Die Fläche war als Gewerbegebiet vorgesehen und der Eigentümer wollte da mal eben Fakten schaffen. Schon zwei Jahre nach der wilden Aktion war die Fläche eines der besten Schmetterlingsbiotope, und heute wimmelt es dort von Zauneidechsen und anderem wärmeliebenden Getier.
Die Heide verschwindet
Viele Gemarkungsnamen der Region weisen noch auf den Zustand der Landschaft vor einigen Jahrzehnten hin, zum Beispiel Giesenheide, Lodenheide1, (Gewerbe- und Baugebiete in Hilden), Ohligser- und Krüdersheide (Solingen-Ohligs, heute vor allem Wald) Heidberger Mühle (Ittertal, stark verwaldet) Heideweg (Baugebiet Tenger in Haan), Backesheide (Gewerbegebiet, McDonalds & Co am Westring zwischen Haan und Solingen), Vennhausen (Heidemoor östlich von Düsseldorf, heute Eller Forst bzw. bebaut) usw. Die „Hildener Heide“ ist zum großen Teil der Kiesindustrie zum Opfer gefallen: Da wo heute Elbsee und Unterbacher See liegen, war früher zusammenhängendes Offenland.
Erst in den letzten Jahren haben einige Flächen ihr altes Aussehen teilweise wiederbekommen, zum Beispiel Teile der Ohligser Heide. Dort wurde großflächig gerodet, die Samen der Heidepflanzen kamen aus dem Boden ans Licht und innerhalb von wenigen Jahren war aus einem Fichtenforst die alte Heide wieder hergestellt – neuer Lebensraum für Baumfalke, Baumpieper und Wespenbussard.
Wer jetzt argumentiert, das sei ja alles nur ein regionales Problem, und die paar Hektar verlorenes Offenland im Speckgürtel des Ruhrgebiets wären eine große Ausnahme, der kann ja mal ein bisschen googlen, nach Stichworten wie „Mindestflur“. In der Schweiz hat sich die Waldfläche seit 1860 um mindestens ein Drittel vergrössert, das gleiche gilt für Österreich. Von 1800 bis heute hat der Wald zum Beispiel in Baden-Württemberg um rund 3000 Quadratkilometer zugenommen, in Rheinland-Pfalz, hier liegt alleine der Zuwachs zwischen 1950 und 1999 bei über 700 Quadratkilometern! Und wer einmal in den letzten Jahren quer durch die Alpen, Cevennen, oder das Hinterland des Mittelmeeres gefahren ist, dem ist vielleicht aufgefallen dass auch dort der vordringende Wald aufgefallen. Während früher dort grosse Waldflächen als Weide oder Niederwald bewirtschaftet wurden – d.h. man erntete die Bäume alle 10-30 Jahre, vor allem zur Brennholzgewinnung – überwiegt dort heute der Hochwald.
Daß dabei das Landschaftsbild vollkommen verändert wurde, ist unbestritten. Mit dem Landschaftbild haben sich allerdings auch zwangsläufig auch die klimatischen Bedingungen der allermeisten Standorte drastisch gewandelt, und hier liegt der Hase im Pfeffer: Durch die Verwaldung sind heute zahlreiche Tier- und Pflanzenarten ernsthaft bedroht. Das trifft zuerst die Kleintierwelt, so sind nach seriösen Schätzungen heute weniger als 5 Prozent der Schmetterlinge unterwegs, die in den gleichen Lebensräumen noch von 100 Jahren flogen.
Der Wald dringt weiter vor
Wer im Herbst und Winter mit offenen Augen durch die Landschaft fährt, sieht sie überall: Landschaftsgärtner, Mitarbeiter der Straßenmeistereien, Wasserverbände, Grünflächenämter, nicht zuletzt Privatleute mit großen Gärten, und natürlich die Naturschützer: Alle sägen heute Jahr für Jahr gegen den vordringenden Wald an, den sie oft vor wenigen Jahren selbst angepflanzt haben. Die AGNU kämpft dabei auf Haaner Gemarkung noch relativ erfolgreich: Pflegeeinsätze gibt es reichlich, und immer wird gesägt, freigeschnitten und organisches Material nach Möglichkeit entfernt. Schaut man dagegen auf den Rest des Niederbergischen Raumes, ist das der absolute Ausnahmefall: Verwaldete Steinbrüche, verwilderte Bachtäler, aufgeforstete oder von Erlendschungel überwucherte Wiesen überall.
Der Wald wird immer dichter.
Nachhaltige Bewirtschaftung nennt sich das, was die Förster mit dem Wald machen. Es darf weniger herausgenommen werden als nachwächst. Als Folge wächst der Gesamtvorrat an Holz kontinuierlich. Seit der Bundeswaldinventur im Jahre 1986 hat sich der Holzvorrat pro Hektar um jährlich etwa zwei „Erntefestmeter ohne Rinde“ erhöht, bei einer Waldfläche von 915.800 Hektar (9158 Quadratkilometern) Wald in NRW bedeutet das einen Holzzuwachs von 1,8 Millionen Festmetern (Quelle: Wald und Holz NRW, 16.9.2011.
Diese starke Zunahme ist vor allem den jungen Stangenwäldern aus Fichte und Buche zuzuschreiben, hier sorgen die Förster gezielt für das ausgeglichene „Waldklima“. Gerade diese Wälder mit fehlendem Unterwuchs bei geschlossenem Kronendach haben einen besonders geringen ökologischen Wert. Um solche „Schonung“ genannten Flächen kann man als Ökologe getrost einen Bogen machen, hier ist die Pflanzen- und Tierwelt stark verarmt, hier blüht nichts und es fliegt auch kein Vogel oder Insekt.